Abends, kurz vor dem Schlafen haben wir immer die besten Gespräche. Da sind wir nicht abgelenkt von nervigen Schwestern oder digitalen Geräten. Die Gedanken der Tochter lassen den Tag noch einmal revuepassieren. Nur wir zwei und etwas Leichtigkeit.
Es war ein wilder Tag, aber nun ist endlich alles ruhig. Die kleine Schwester schläft nebenan im Zimmer. Die Große hat gewartet, bis ich noch einmal durch den Türspalt blicke um Gute Nacht zu sagen. „Kannst du dich noch ein bisschen zu mir legen?“, fragt sie mit schon fast geschlossenen Augen. Ich bin müde und möchte eigentlich auf die Couch, höre aber in ihrer Stimme, dass das jetzt wichtiger ist. Also atme ich einmal durch und lege mich zu ihr ins Bett. Ihre kalten Füße suchen Platz zwischen meinen Oberschenkel, ich zucke zusammen und merke wie sie grinst.
Richtig scheiße
„Mama, weißt du was richtig scheiße ist?“, fragt sie nach einiger Zeit. „Was denn?“, antworte ich und warte. Gefühlt eine Ewigkeit. Ihre Hand greift nach meiner und sie wuzelt jeden einzelnen meiner Finger zwischen ihrem Zeigefinger und Daumen. Wenn sie nicht die richtigen Worte findet, brauchen ihre Finger eine Beschäftigung. Das kenne ich. „Was ist richtig scheiße?“, meine Ungeduld versuche ich zu verstecken.
Sie schluckt. Sie schnieft. Weint sie etwa? Doch bevor ich das herausfinden kann, sprudelt es schon aus ihr heraus. Sie beginnt von ihrem Tag zu erzählen, davon wie blöd manche Freundinnen sind und dass das vielleicht doch gar keine Freundinnen sind. Davon wie sie verbal verletzt wurde und auch verbal verletzt hat. Sie erzählt mir einfach alles. Detailliert, unverblümt, traurig und wütend. Sie schluchzt. Mein Nacken ist von ihren Tränen schon ganz nass. Ich höre ihr zu, höre mir alles an. Bis sie fertig ist.
Woher willst du das wissen?
Sie atmet erleichtert aus. Ich drücke sie so fest ich kann an mich und spüre das kleine Herzchen in ihrer Brust ganz schnell rasen. In Millisekunden ordne ich alles Gesagte in meinem Kopf und bin es diesmal selbst, die versucht die richtigen Worte zu finden. Doch mir fällt nicht mehr ein als „Alles wird gut.“ Und das meine ich genauso. Davon bin ich überzeugt, schließlich war ich auch einmal 9 Jahre alt. Been there done that, sozusagen.
Sie schaut mich verwundert und auch etwas genervt an. So, als hätte ich keine Ahnung, was ich da rede. Ich spüre sofort, dass sie sich unverstanden fühlt und bekomme das auch zu hören:“ Woher willst du das wissen? Du verstehst mich überhaupt nicht. Was, wenn ich nie wieder so eine gute Freundin finde.“ Sie schluchzt nun noch mehr als zuvor, denn zu ihrer Trauer kommt nun auch Wut dazu und mir wird sofort klar, dass ich nichts weiter zu tun habe, als da zu sein. Dieser kleine Mensch liegt neben mir und heult sich die Seele aus dem Leib. So tiefe Gefühle, die für einen erwachsenen Menschen belanglos erscheinen, aber ihre junge Welt soeben erschüttern.
Ich mach das schon für dich…
„Du hast Recht, das kann ich nicht wissen. Aber ich glaube fest daran, dass alles gut wird“, sage ich nochmal vorsichtig und nehme mir ganz stark vor, ab jetzt den Mund zu halten. So liegen wir nebeneinander. Schon viel zu spät und viel zu müde. Aber das musste noch raus aus dem kleinen Menschen. Ich fühle mich etwas hilflos. Wie gerne würde ich ihr diesen Schmerz abnehmen. Einfach sagen: “Gib her den Schas, das brauchst du nicht durchmachen, das tut viel zu sehr weh. Ich mach das schon für dich.“
Aber nein, diese Erfahrung, so wie jede andere auch, macht sie schon selbst. Ich werde weiter zuhören, begleiten, Hand halten, kuscheln, trösten, Rat geben wenn danach gefragt wird und manchmal bestimmt auch ungefragt. Eines weiß ich, weil mir meine Mama das einige Male gesagt hat: Alles wird gut! Echt jetzt.
Schönes Wochenende
Eure Anna